Seit März halten die Aufstände in Syrien trotz heftiger Repression an; der Sturz des Regimes wird immer nachdrücklicher gefordert. Doch die im Exil operierenden Oppositionsparteien haben teilweise fragwürdige Agenden.
Daraa, südwestliches Syrien, März 2011: 15 Schulkinder werden von syrischen Sicherheitskräften misshandelt und verhaftet. Sie haben – inspiriert von den Jugendrevolten in Ägypten und Tunesien – regimekritische Parolen an Wände geschrieben, etwa „Die Menschen wollen den Sturz des Regimes“. Doch Syrien unterscheidet sich von den „Revolutionsvorbildern“ in der arabischen Welt: Mit über einem Dutzend unterschiedlicher Konfessionen, einer halben Million palästinensischer Flüchtlinge, einer Million Flüchtlinge aus dem Irak, mit Juden, Christen und über zwei Millionen Kurden, herrschte bisher ein fragiles Gleichgewicht zwischen sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und ihren Interessen.
Seine geographische Lage macht Syrien zu einem zentralen Spieler in der Diplomatie und den politischen Kriegswirren in und um seine Nachbarländer Libanon, Israel/die besetzten palästinensischen Gebiete, Irak, Türkei und Jordanien. Ebenso komplex sieht es mit den syrischen Oppositionsparteien aus, deren Führungen vorwiegend klandestin vom Ausland aus agieren. In England, Frankreich, Belgien, den USA und Deutschland haben sich Oppositionsgruppen, allen voran die syrische Muslimbruderschaft, niedergelassen. Die heutige Regierung um Bashar al Assad hat viele Feinde.
Nach dem brutalen Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte in Daraa gegen friedliche jugendliche DemonstrantInnen begannen auch AnhängerInnen des Präsidenten auf die Straße zu gehen. Der Funke des Widerstandes, des zivilen Nein-Sagens griff um sich. Proteste fanden bald auch in der nördlich von Damaskus gelegenen Kleinstadt Homs und vor allem in den kurdischen Regionen des Nordens statt. Die Demonstrierenden forderten anfangs mehr politische Freiheiten, Meinungsfreiheit und ein Ende der Korruption, später dann auch den Sturz des Regimes. Der Ärger richtete sich anfänglich vor allem gegen den Cousin des Präsidenten, Rami Makhluf, Besitzer der Mobiltelefon-Firma Syriatel, angeblich der wirtschaftlich mächtigste Mann des Landes und ein Symbol für ausufernde Korruption und Vetternwirtschaft.
Die schlechte wirtschaftliche Lage, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eingeschränkte Meinungsfreiheit ließen immer mehr Menschen auf die Straße gehen – trotz des hohen Risikos, verhaftet zu werden. Vor allem junge Menschen fühlten sich von der Stimmung angesteckt, eine „Jugendkoalition der Freiheitsrevolution“ wurde gebildet. Wie sich die Proteste auf die Bildung weiterer, neuer Oppositionsbewegungen auswirken, ist noch unklar. Anfang Juni fand im türkischen Antalya ein breites Treffen oppositioneller syrischer Gruppen statt, bei dem unter anderem gegen die Bewaffnung der Demonstrierenden und gegen eine Intervention von außen gestimmt wurde.
Bei der Opposition im Ausland sind die Muslimbruderschaft, die Nationale Befreiungsfront, die Reformpartei, die Kommunistische Partei und die Bewegung für Gerechtigkeit und Aufbau sowie einige kurdische Parteien erwähnenswert.
Von Mustafa As-Sibai 1946 im syrischen Homs gegründet, unterschied sich die syrische Muslimbruderschaft durch ihre fundamentalistische Auslegung des Islam von ihrem 1928 in Ägypten gegründeten Vorbild. Nach dem dritten Nahostkrieg 1967 verlor Syrien die Golanhöhen an Israel, die regierende Baath-Partei erlitt einen Vertrauensschwund in der Bevölkerung. Die Muslimbruderschaft formierte sich zum Putsch gegen Hafiz al Assad, den Vater des heutigen Präsidenten. 1982 gipfelten die Auseinandersetzungen in den blutigen Ereignissen von Hama. Um die 30.000 Menschen starben bei der Bombardierung der Stadt durch das syrische Militär, der Aufstand der Muslimbrüder war beendet, die Mitgliedschaft wurde unter Todesstrafe gestellt.
Bei den aktuellen Protesten zeigt sich die Muslimbruderschaft nun wieder aktiv, ruft zur Beteiligung auf und organisiert Demonstrationen. Viele ehemalige Muslimbrüder haben die Ereignisse von Hama nicht vergessen.
Die Nationale Befreiungsfront wurde vom ehemaligen stellvertretenden Staatschef Abdulhalim Al Khaddam in Brüssel in Kooperation mit der Muslimbruderschaft und anderen oppositionellen Gruppen gegründet. Al Khaddam galt in der Regierung als Hardliner und war unter anderem für die syrische Einflussnahme in Libanon verantwortlich. Er ist bei der syrischen Bevölkerung nicht gerade beliebt und wird für Menschenrechtsverletzungen in Libanon und Syrien verantwortlich gemacht. Al Khaddam fordert radikale Veränderungen im Land, sein derzeitiger Einfluss im Protestgeschehen ist jedoch schwer einzuschätzen. Auch der erst in Paris, dann in London lebende Bruder des verstorbenen Präsidentenvaters, Rifaat al Assad, ist bei der syrischen Bevölkerung verhasst und war wegen seines brutalen Vorgehens gegen Dissidenten berüchtigt. Nachdem in den 1980er Jahren Hafiz als Sieger des Bruderkampfes hervorging, verließ Rifaat das Land und begann, sich mit arabischen Führern anderer Länder zu treffen, um Unterstützung für seine neu gegründete Oppositionsbewegung zu bekommen. In Syrien erzählt man sich heute noch Geschichten über den von ihm verbreiteten Terror in der Bevölkerung.
Die Reformpartei von Farid Ghadry hingegen wird als Sprachrohr der Neokonservativen in den USA gesehen, die eine militärische Intervention in Syrien nach dem Vorbild des Irak 2003 propagieren. Ghadry ist syrisch-amerikanischer Doppelstaatsbürger und gründete seine Partei kurz nach den Ereignissen des 11. September. Ihm werden gute Beziehungen zur israelischen Lobby in den USA nachgesagt, die syrische Bevölkerung lehnt die Partei Ghadrys ab. Sein direkter Einfluss auf die Proteste ist schwer einzuschätzen, laut Wikileaks unterstützt die US-Regierung jedoch seit längerer Zeit syrische Oppositionsgruppierungen.
Die Bewegung für Gerechtigkeit und Aufbau hingegen erfreut sich relativer Akzeptanz bei der Bevölkerung. 2006 in London gegründet, stützt sie sich auf die „Damaskus-Deklaration“ für einen demokratischen Wandel und vereint unterschiedliche politische Kräfte. Eine Vereinigung mit Khaddams Nationaler Befreiungsfront und den Muslimbrüdern lehnt sie ab. Die Bewegung fordert eine Aufhebung des Notstandsgesetzes (das die bürgerlichen Rechte der letzten Jahrzehnte massiv aushöhlte), die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Gründung von unabhängigen Parteien und die Rückkehr der aus politischen Gründen Vertriebenen. Die kurdischen Parteien treten für eine Aufwertung der kurdischen Sprache und für mehr Autonomie für ihre Gebiete im Norden ein. Sie beteiligen sich sehr aktiv an den Protesten.
„Die wirkliche Opposition neben den verbotenen Oppositionsparteien in Syrien sind jedoch kritische Schriftsteller, Denker und andere Intellektuelle. Sie stellen eine reale Gefahr für das Regime dar; der Geheimdienst versucht, Kontrolle über sie auszuüben. Der Arm der politischen Sicherheitsdienste geht von Stockholm nach Mailand bis Wien und zurück nach Damaskus“, erzählt ein syrisch-palästinensischer Schriftsteller, der anonym bleiben will. Ähnliche Geschichten gibt es von Dichtern und Journalistinnen in Syrien. Problematisch ist auch das von vielen erwähnte Machtvakuum im Land: Viele glauben, die wirkliche Macht liege nicht in den Händen des Präsidenten, sondern bei anderen Mitgliedern der Assad-Familie. Maher al Assad (Bruder des Präsidenten, der eine Elitetruppe kommandiert) und Asaf Shawkat (Schwager des Präsidenten, Spitze des militärischen Geheimdienstes) werden immer wieder als Drahtzieher der brutalen Repression genannt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit steht heute eine wirklich von der Bevölkerung gewollte Veränderung bevor. Doch es wird langwierig werden, glauben viele Syrer und Syrerinnen. Ein Gedanke eint die Menschen des Landes: Eine Intervention von außen dürfe es nicht geben, und ein libanesisches, irakisches oder libysches Szenario muss unbedingt vermieden werden. Syrien war immer tolerant gegenüber Religionen und Flüchtlingen dieser Welt, das soll so bleiben, lautet der allgemeine Tenor. Doch Rufe nach nationaler Versöhnung erscheinen nun immer unwahrscheinlicher, zu viele Menschen sind gestorben, zu viele Verhaftungen gab es, zu viele nicht gehaltene Reformversprechungen. Fest steht aber auch, dass Präsident Bashar al Assad immer noch Unterstützung in unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung hat, die von den Politiken des Assad-Clans profitieren, deren Lebensstandard in den letzten Jahren gestiegen ist. Vor dem Hintergrund des bisherigen Mangels einer glaubwürdigen und gut organisierten, national koordinierten Opposition als Alternative zur Assad-Regierung dürften sich die Aufstände in Syrien tatsächlich in die Länge ziehen.
Eva Pilipp hat in Wien Politikwissenschaft und Journalismus studiert. Sie lebte zweieinhalb Jahre in Damaskus, arbeitete später an der Universität in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh und lebt derzeit wieder in Wien.
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